Führung bringt Ärger. Je mehr Berlin in den zurückliegenden Jahren im Zuge der Krisen in Europa bewusst eine Führungsrolle einnahm, desto größer wurde auch das Misstrauen, das der Bundesregierung entgegenschlug. Nicht alle Mitgliedstaaten der EU waren und sind von den deutschen Lösungsansätzen insbesondere in der Flüchtlingskrise oder der Krise im Euroraum überzeugt: einige sehen im Einfluss Deutschlands auch einen Teil des Problems. Doch trotz aller Kritik kann es sich die Bundesregierung gerade nicht erlauben, zurückhaltend zu sein. Vielmehr muss sie einen neuen Führungsstil entwickeln, um einen weiteren Vertrauensverlust zu vermeiden.

Seit der britischen Brexit-Entscheidung sowie der beispiellosen Verunsicherung im transatlantischen Verhältnis sind die Erwartungen an Deutschland innerhalb und außerhalb Europas noch einmal gestiegen. Die Kanzlerin selbst hat in den vergangenen Monaten immer wieder darauf verwiesen, dass die Europäer ihr Schicksal in die eigene Hand nehmen müssen, und auch die besondere Verantwortung Berlins dabei betont. Auf Deutschlands Schultern scheint mit einem Mal nicht nur die Zukunft Europas zu lasten, sondern eine besondere Verantwortung für die Aufrechterhaltung liberaler Werte und für eine regelbasierte Weltordnung. Für die Bundesregierung ist die von außen an sie herangetragene Erwartungshaltung keine gute Nachricht.

Erstens speist sich die Überhöhung der deutschen Rolle in Europa nicht aus einem tatsächlich gewachsenen deutschen Machtpotenzial. Es ist vielmehr die momentane Schwäche der anderen, insbesondere der großen Mitgliedstaaten, welche die Bundesrepublik im Vergleich als so stark und stabil erscheinen lässt. Zweitens wird die ohnehin schwierige Aufgabe, verschiedene Interessen in Europa auszubalancieren, in einer immer heterogeneren EU künftig noch schwerer zu leisten sein. Während beispielsweise Griechenland das deutsche Handeln in der Flüchtlingskrise begrüßte, stieß es in Polen oder Ungarn auf Ablehnung. Umgekehrt erfuhr die deutsche Konsolidierungspolitik während der Krisen im Euroraum heftige Kritik aus den betroffenen Staaten Südeuropas; gleichzeitig wurde sie jedoch beispielsweise in den Niederlanden oder in Finnland grundsätzlich positiv bewertet.

Es zeigt sich, dass immer mehr Regierungen europäischer Mitgliedstaaten nicht mehr der Meinung sind, dass Deutschland die vorhandenen Probleme richtig analysiere und erfolgreiche Lösungen anbiete.

Die Bundesregierung hatte den bereitwilligen Verzicht auf Souveränität zugunsten der europäischen Integration zum außenpolitischen Leitmotiv der Bonner Republik erhoben und betont bis heute ihre Selbstbeschränkung und Selbsteinbindung im europäischen Kontext. Nun läuft sie aber Gefahr, als selbstherrlich und rücksichtslos zu gelten. Die bewährte Strategie, mit den anderen europäischen Ländern einen Konsens zu finden, statt Zustimmung zu erzwingen, ist im Zuge der jüngsten Krisen an ihre Grenzen gestoßen.

Egal, wie sich Deutschland in den verschiedenen Krisen positionierte, es gelang nie, alle Interessen miteinander in Einklang zu bringen. Im Gegenteil. Besonders in der Krise im Euroraum und der Flüchtlingskrise wurde der Bundesregierung vorgeworfen, ihre eigenen Vorstellungen gegen den Willen der anderen EU-Mitgliedstaaten und ohne Absprache durchgedrückt zu haben. Deutschland, so der Vorwurf, habe Europa und die europäischen Institutionen für seine nationale Interessenpolitik instrumentalisiert. Es zeigt sich, dass immer mehr Regierungen europäischer Mitgliedstaaten nicht mehr der Meinung sind, dass Deutschland die vorhandenen Probleme richtig analysiere und erfolgreiche Lösungen anbiete.

Gleichzeitig führt der Austritt des Vereinigten Königreichs dazu, dass sich die europäischen Mitgliedstaaten noch stärker bewusst werden, dass an Deutschland kein Weg vorbeiführt. Aus diesem Grund wurde selbst die polnische PiS-Regierung trotz grundsätzlicher Animositäten nach den ersten Monaten im Amt wieder diplomatischer gegenüber der deutschen Regierung. Griechenland kann weder die Wirtschafts- und Schuldenkrise noch die Flüchtlingskrise ohne die Unterstützung der Bundesregierung lösen. Auch Frankreich sieht Deutschland bei allen vorhandenen Meinungsverschiedenheiten und Frustrationen weiterhin als unersetzlichen Partner: Für den neuen französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der sich gern als Freund Deutschlands inszeniert, ist eine enge Zusammenarbeit mit Deutschland unumgänglich und selbstverständlich. Deshalb wird sich Deutschland von seiner Führungsrolle auch nicht so schnell verabschieden können. Gerade jetzt wo sich durch den Wahlsieg Macrons – jüngst untermauert durch eine große Parlamentsmehrheit – ein Zeitfenster geöffnet hat, um die Situation in der EU zu stabilisieren.

Die Führungsrolle mit Frankreich teilen

Nach der deutschen Bundestagswahl im September müssen Deutschland und Frankreich zeigen, dass das „couple franco-allemand“ als gemeinsamer Integrationsmotor der EU tatsächlich trag- und gestaltungsfähig ist. Schließlich würde ein Scheitern die Chance auf eine nachhaltige, tiefgreifende Reform der EU auf lange Sicht zunichtemachen. Doch unabhängig davon, ob das neue deutsch-französische Tandem „Mercron“ oder „Schucron“ heißen wird: Die europapolitischen Interessen der beiden Partner sind nicht deckungsgleich. Ein erfolgreiches Zusammenwirken bedarf demnach zuallererst größerem Vertrauen vonseiten Frankreichs in Deutschlands Führungs- und Gestaltungskraft.

Selbst wenn das deutsch-französische Tandem tragfähige Reformimpulse erarbeiten kann, stellt dies lediglich eine notwendige Bedingung für einen europäischen Konsens dar. In einer zukünftigen Union der 27, die zwar den Zusammenhalt verbal beschwört, unter der Oberfläche jedoch uneiniger und heterogener denn je zu sein scheint, haben die Erfahrungen mit deutscher Führung aus den vergangenen Krisen bei einigen Mitgliedsstaaten tiefe Spuren hinterlassen. Sollten sich Berlin und Frankreich zu sehr darauf konzentrieren, das eingerostete Tandem wieder in Schuss zu kriegen, könnte dies Missmut unter den verbleibenden Mitgliedsstaaten hervorrufen und schließlich einen dringend notwendigen Reformkonsens verhindern.

Die Bundesregierung ist nicht – wie sie sich gerne selbst darstellt – die Wächterin der europäischen Regeln und Vermittlerin zwischen den Partnern.

Berlin muss also neue Verhaltensregeln entwickeln. Dafür muss die Bundesregierung in erster Linie – anders als in der Flüchtlingskrise – die eigenen Absichten besser kommunizieren und ihre Partner in Entscheidungen einbeziehen, statt sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Dazu gehört auch, dass sich die deutsche Regierung auf grundsätzliche Diskussionen über den europapolitischen Kurs einlässt und dabei Bereitschaft zeigt, die Richtigkeit anderer Problemanalysen anzuerkennen. Die Bundesregierung ist nicht – wie sie sich gerne selbst darstellt – die Wächterin der europäischen Regeln und Vermittlerin zwischen den Partnern. Die deutschen Forderungen sind nicht neutral, sondern von nationalen Erfahrungen, Traditionen und Denkweisen geprägt, wie bei all ihren Partnern auch. Würde die deutsche Regierung diesem Umstand auf europäischer Ebene offen Rechnung tragen, würde dies den Vorwurf des Anspruchs auf moralische Überlegenheit, den andere europäische Politiker häufig äußern, abschwächen. Auch der Vorwurf einer „versteckten Agenda“ würde zumindest teilweise entkräftet.

Außerdem verstecken sich andere Mitgliedstaaten oftmals hinter der deutschen Regierung, etwa während der Krisen im Euroraum, als viele nord- und osteuropäische Länder die deutsche Position teilten: Als Sprecher von Ländern, die sich im Hintergrund halten, wird Deutschland so zum ungewollten Kristallisationspunkt der innereuropäischen Spannungen. Deswegen sollte die Bundesregierung zur Schaffung europäischer Strukturen und Vereinbarungen beitragen, die Deutschland weniger in den Vordergrund stellen würden. Auch mehr Kollegialität würde der Idee eines „Diktats“ widersprechen. So sollte Deutschland anderen EU-Ländern aktiv Partnerschaften anbieten und seine Partner stärker aufwerten – ähnlich dem Modell der deutsch-französischen Zusammenarbeit gegenüber Russland in Bezug auf den Konflikt in der Ukraine.

Eine bessere Kommunikation und mehr Kooperation im Rahmen flexibler Konstellationen sind notwendig, um einen weiteren Vertrauensverlust zu vermeiden. Doch dies kann nur gelingen, wenn gleichzeitig Deutschland seinen Partnern stärker entgegenkommt, etwa in Bezug auf die weitere Integration der Eurozone oder eine intensivere Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik. Die Bundesregierung muss echte, schmerzhafte Kompromisse eingehen. Gerade im Dialog mit der Öffentlichkeit sollte sie betonen, dass die dabei entstehenden Kosten notwendige Investitionen für die Prosperität Deutschlands sind, die untrennbar mit der Stabilität Europas zusammenhängt. Der Wahlkampf bietet die Gelegenheit, eine solche Aufklärungsarbeit zu leisten. Doch vor allem nach der Bundestagswahl wird das neue Team an der Spree seine Europapolitik neu austarieren müssen.